Demenzen, Schlaganfall, Multiple Sklerose: Münchner Forscherinnen und Forscher untersuchen neurologische Erkrankungen auf gemeinsame Entstehungsmechanismen. Das soll neuartige Therapie-Konzepte möglich machen.
Christian Haass ist schon lange im Geschäft, doch um diese Geschichte zu erzählen, muss er weit zurückgehen, bis zu seinen Anfängen als Wissenschaftler. Welche Rolle spielen Fresszellen des Gehirns, die sogenannte Mikroglia, bei Alzheimer? Was hat das Immunsystem mit der Demenzerkrankung zu tun? Das sind Fragen, die ihn damals beschäftigt haben. Und in dieser Zeit, ganz am Anfang seiner Laufbahn, hat er dazu auch schon Arbeiten veröffentlicht. „Das war 1991, doch dann habe ich das Thema nicht weiterverfolgt, über 20 Jahre lang. Wir alle, die Wissenschaft insgesamt, haben es lange ignoriert.“
Heute wissen die Forscherinnen und Forscher um den Münchner Alzheimer-Experten sehr wohl, wie entscheidend Immunprozesse für das Fortschreiten der Demenz sind. Nicht zuletzt die Arbeiten im Exzellenzcluster SyNergy, der jetzt in eine zweite Runde geht, zeigen das. Es ist eine komplizierte Kaskade physiologischer und pathologischer Prozesse, die das Verhängnis über Jahre hin seinen Lauf nehmen lässt, die zu den charakteristischen Eiweißablagerungen im Gehirn, den sogenannten Plaques, führt und die Nervenzellen am Ende absterben lässt. Für diese Abläufe, so fanden die Forscher heraus, sind auch entzündliche Prozesse ein Motor, was die Mikroglia auf den Plan ruft. Und was die Sache nicht eben einfacher macht: Die Fresszellen übernehmen dabei verschiedene Rollen. Sie heizen den Krankheitsverlauf nicht nur an, zumindest im Frühstadium der Erkrankung ist ihre Aktivierung ein protektiver Faktor. „Am Anfang sorgt die Mikroglia dafür, dass sich nur kleinere Plaques bilden können, und verhindert so den neuronalen Zelltod“, sagt Haass, Inhaber des Lehrstuhls für Stoffwechselbiochemie der LMU und Sprecher des Münchner Standorts des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
Dass Haass der Spur der entzündlichen Prozesse lange nicht weiter nachging, ist kein Zeichen von Nachlässigkeit, zumal das Wissen um die Plaque-Entstehung schmal war und entsprechende Untersuchungstechniken fehlten. Nur den Hauptaspekt von Erkrankungen in den Blick zu nehmen, ist durchaus üblich und folgt dem gängigen Prinzip, sie in einer strikten Systematik nach einigermaßen augenfälligen Pathologien zu kategorisieren. Dass das aber offensichtlich zu kurz greift, macht die Idee des SyNergy-Clusters so einfach wie einleuchtend: nach Entstehungsmechanismen zu suchen, die den neurologischen Erkrankungen gemeinsam sind, auch wenn ihre Erscheinungsformen sich noch so sehr unterscheiden. Und keineswegs geht es dabei um seltene Leiden, es sind Volkskrankheiten wie Demenz, Schlaganfall und Multiple Sklerose. Sie alle, das ist die wichtige Botschaft von SyNergy, entstehen aus einem Zusammenspiel von degenerativen, immunologischen und vaskulären Mechanismen. Und aus der Zusammenschau, so hoffen die Wissenschaftler, ergeben sich nicht nur neue Erkenntnisse über die zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen, sondern womöglich auch Ansätze für neuartige Therapien.
Der Exzellencluster Munich Cluster for Systems Neurology, kurz SyNergy, ist eine gemeinsame Initiative von LMU und Technischer Universität München (TUM), beteiligt daran sind auch beide Universitätsklinika, das DZNE, das Helmholtz Zentrum München sowie die Max-Planck-Institute für Biochemie, Neurobiologie und Psychiatrie. Bereits in der zweiten Phase der Exzellenzinitiative 2012 bekam das SyNergy-Konzept den Zuschlag und wird seit fünf Jahren gefördert. Nun ist der Ansatz auch im Auswahlverfahren der neuen Exzellenz-Strategie erfolgreich gewesen. „Die Grundidee ist gut und nach fünf Jahren ist beileibe nicht alles abgearbeitet“, sagt Haass.
Interview mit Professor Christian Haass
Denn das Netz pathophysiologischer Ähnlichkeiten, das zeigt sich den Wissenschaftlern immer deutlicher, ist dicht geknüpft. Sie können nicht nur erkennen, wie sehr entzündliche Prozesse bei Demenzen eine Rolle spielen, sie beobachten auch vaskuläre Defizite. Die typischen Eiweißablagerungen beispielsweise gibt es nicht nur in den Nervenzellen des Gehirns, sondern auch an den Wänden von Gefäßen, die es versorgen. „Das führt zum Verschluss der Gefäße, zu Mikroblutungen und auch zu charakteristischen Veränderungen der Genexpression in den Endothelzellen, die die Gefäße auskleiden.“ Multiple Sklerose ist nicht nur wie lange angenommen eine neuroentzündliche Erkrankung, sie führt auch zu einem substanziellen Verlust von Nervenzellen und neuronalen Funktionen. „Und wahrscheinlich prägen sie auch ähnliche Mechanismen der Toxizität wie bei Alzheimer“, sagt Haass. Schlaganfall schließlich ist weit mehr als nur ein örtlich begrenzter Gefäßverschluss. Ihm folgen lokale und systemische Veränderungen des Immunsystems und Schädigungen von Nervenzellen und neurologischen Funktionen. „Schlaganfallpatienten haben oft eine Demenz und ein höheres Risiko, Alzheimer zu entwickeln“, sagt Haass.
Aus solchen Beobachtungen ergeben sich für die SyNergy-Forscher neue transdisziplinäre Fragestellungen, die die Grenzen der gängigen Klassifikation der Krankheiten sprengen. Dafür tut sich beispielsweise der Alzheimer-Forscher mit dem Experten für MS zusammen, der Wissenschaftler, der von Haus aus neurodegenerative Mechanismen untersucht, mit dem, für den vaskuläre Störungen im Zentrum seiner Arbeit stehen. Elf neue Forschungsvorhaben sind bereits projektiert. In zwei weiteren internen Wettbewerbsrunden sollen etwa noch einmal so viele Tandems dazukommen.
Die Rolle der Zellkraftwerke
In einem dieser Tandems zum Beispiel geht es um die Rolle, die Mitochondrien, die Zellkraftwerke, bei Parkinson und Amyotropher Lateralsklerose (ALS) spielen, aber auch bei Multipler Sklerose. Wie verändern sich die Zellorganelle in Nervenzellen und Mikroglia, wenn die Axone, die „Nervenfasern“, wie bei diesen Krankheiten typisch degenerieren? Das werden die SyNergy-Forscher unter anderem mit Studien zur Genaktivität und neuen Bildgebungstechniken untersuchen. „Die Beteiligung solch fundamentaler Zellbestandteile wie Mitochondrien bei zahlreichen Erkrankungen über das gesamte neurologische Erkrankungsspektrum hinweg betont, wie wichtig die Grundlagenforschung für das Konzept unseres gemeinsamen Clusters ist und bleibt“, sagt Thomas Misgeld, Inhaber des Lehrstuhls für Zellbiologie des Nervensystems der TUM und neben Haass Sprecher von SyNergy.
Für das Krankheitsgeschehen bei MS ist typisch, dass das Nervensystem nicht mehr in der Lage ist, die sogenannte Myelinschicht, die die Axone ummantelt, nachzubilden. Offenbar trägt dazu nicht unwesentlich ein Defekt bestimmter Immunzellen bei, der Phagocyten: Sie können spezifische Stoffwechselwege und den Abtransport von Lipiden nicht mehr aktivieren, was zur Anhäufung dieser Fettsubstanzen führt. Eine ähnliche Fehlfunktion der Phagocyten beobachten Wissenschaftler bei der Artherosklerose. Die SyNergy-Forscher wollen diese Zusammenhänge in einem weiteren der Tandem-Projekte klären.
Dass das Modell der Tandems die Produktivität und den Erkenntnisgewinn in den transdisziplinären Gebieten steigert, dafür spricht schon die Liste von gut 900 wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Großteil in hochrangigen Fachzeitschriften aus den ersten fünf Jahren. Und nebenbei bemerkt: Mit dem Cluster ist die Zahl gemeinsamer Arbeiten von Forschern von LMU und TUM auf diesem Gebiet rasant gestiegen.
Nicht zuletzt waren die SyNergy-Experten maßgeblich daran beteiligt, dass mit dem CSD ein gemeinsames „Centrum für Schlaganfall- und Demenzforschung“ auf dem Hightech-Campus in Großhadern/Martinsried seinen Betrieb aufnehmen konnte. Es beherbergt nicht nur eine Reihe der am Cluster beteiligten Labore, sondern koppelt die Forschung auch an die Klinik, da es in die Patientenversorgung eingebunden ist. Nach diesem Vorbild soll – möglichst noch während der Laufzeit des Clusters – ein weiteres SyNergy Research Center, in diesem Fall für Neuroinflammation und Neurowissenschaften, entstehen.
Fresszellen als „Targets“
„Wir wollen dafür sorgen, dass unsere Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in der Klinik ankommen“, sagt Haass. Deswegen spielt in der zweiten Runde des Exzellenzclusters die translationale Forschung eine stärkere Rolle. Stand in den ersten fünf Jahren die Aufgabe im Vordergrund abzustecken, wie weit der SyNergy-Ansatz wissenschaftlich trägt, wollen die beteiligten Forscher darin nun Ansätze für Therapiekonzepte finden und verifizieren. Einige der Forscher-Tandems widmen sich darum gezielt solchen translationalen Fragestellungen.
Haass selbst ist an einem Projekt beteiligt, das Biomarker für die Aktivität der Mikroglia für die Praxis einsetzbar machen soll. Damit wollen die Wissenschaftler nicht nur noch genauer verstehen, wie entzündliche Prozesse den Krankheitsverlauf bei Alzheimer und anderen Demenzen beeinflussen. Sie hoffen auch einen Weg zu finden, bereits frühe Stadien der Krankheit zu erkennen – und sie therapeutisch zu beeinflussen, indem sie die Fresszellen als „Target“ nutzen.
Die Mikroglia befindet sich normalerweise in einer Art Ruhezustand, erkennt sie jedoch Plaques und andere Anzeichen von neuronalen Schädigungen, schaltet sie auf Abwehr, um die giftige Abfallprodukte zu bekämpfen. Sie stellt Genexpression und Stoffwechsel um, was sie beweglicher und angriffsbereiter macht. Im Fokus von Haass‘ Forschung steht hier das Gen TREM2. Ist es defekt, kann die Mikroglia nicht in den Kampfmodus schalten. Abgesehen davon, dass die Forscher am Design von Antikörpern arbeiten, die über TREM2 die Fresszellen einmal dazu bringen sollen, Plaques abzuräumen – der TREM2-Status könnte ein Marker sein, der schon frühe Anzeichen einer Demenz anzeigt. Die Forscher wollen ihn zunächst im Mausmodell testen, bei Erfolg in einer späteren Phase auch an menschlichen Probanden.
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